Im klassischen „film noir“ ist der „Held“ zu Beginn des Films schon kein netter Kerl. Die Umstände, seine Gier und natürlich eine „femme fatale“ lassen ihn noch weiter von Weg abkommen, sodass sein schlimmes Ende bald unausweichlich ist. Aber del Toro begnügt sich nicht mit Klischees. Die Motivation seiner Figuren ist immer psychologisch stimmig. Hier zeigt er uns eine Welt voller schwacher Menschen und legt die Gründe für all diese Schwächen dar. Nach „Hellboy“, „Pans Labyrinth“ und „Pacific Rim“ liefert er uns auch in „Nightmare Alley“ einen Protagonisten mit „daddy issues“. So drastisch wie hier haben sich diese Probleme aber in keinem der früheren Filme manifestiert.
Del Toro erzählt uns hier in teilweise furchtbaren, aber immer großartigen Bildern auf kompromisslose Weise die Geschichte eines emotional gestörten Protagonisten in einer grausamen Welt. Dazu bedient er sich eines Filmgenres, an dem seit Jahrzehnten kaum Interesse besteht und für das Teile des Publikums wohl kaum noch Verständnis haben. Es würde mich nicht überraschen, wenn viele Filmfans Mühe hätten, einen Zugang zu diesem Film zu finden.
The boy would love to be loved
Das wäre tatsächlich tragisch, weil die Darsteller in „Nightmare Alley“ alle beeindruckende Leistungen zeigen. Bradley Cooper ist einer der interessantesten Schauspieler unserer Zeit. In Filmen wie „American Hustle“ oder „American Sniper“ konnte er Herausforderungen meistern, an denen andere Darsteller gescheitert wären. Und selbst in diesem kaum erträglichen Schmachtfetzen mit Lady Gaga gelang es Cooper immer noch, zu brillieren.
Hier spielt er in der ersten Hälfte des Films einen jungen Mann vom Lande mit dunkler Vergangenheit und ehrgeizigen Ideen. In der zweiten Hälfte des Films ist er bereits erfolgreich, ist aber fest entschlossen, alles zu tun um noch mehr zu erreichen. Wenn seine Figur in dieser Phase des Films mit seiner Art zu sprechen, sich zu kleiden und sich zu bewegen seine Herkunft zu verbergen versucht und sich doch immer wieder in Kleinigkeiten verrät, zeigt Cooper eine der differenziertesten Leistungen seiner Karriere.
David Strathairn hat eine Vielzahl von Filmen mit großartigen Leistungen in Nebenrollen bereichert. Er wirkte furchteinflößend in „Dolores“ und zutiefst menschlich in „Nomadland“. Und auch hier breitet er in einen wenigen Szenen ein wunderbar trauriges Leben voller Weisheit und Erfahrung, aber auch Fehler und Schwächen vor uns aus.
Toni Collette schafft es mit einer Bewegung Ihres Fußes die wahren Absichten ihrer Figur zu vermitteln bevor sie diese ihrem Gegenüber offenbart. Rooney Mara vermittelt uns die Hoffnung, die sie den Helden schöpfen lässt. Willem Dafoe, Richard Jenkins, Ron Perlman, Mary Steenburgen und weitere bekannte Darsteller*innen sind in ihren wenigen Szenen so großartig, man möchte mit jeder dieser Figuren einen weiteren Film nur über sie sehen.
Es dauert eine gute Stunde, bis wir Cate Blanchett im Film zu sehen bekommen und selbst dann hat sie nur einige wenige Szenen. Trotzdem dominiert sie den ganzen Film. Blanchett zeigt hier sicher nicht die subtilste aber vermutlich eine der eindrucksvollsten Leistungen ihrer Karriere. Wenn del Toro mit „Nightmare Alley“ der ultimative „film noir“ gelungen ist, dann hauptsächlich weil Blanchett die ultimative „femme fatale“ ist.
Fazit
Guillermo del Toro hat wieder ein Kunstwerk geschaffen. Ein schwer zugängliches, schwer erträgliches Kunstwerk voll Fantasie, Realismus und fantastischer, realistischer Grausamkeit, aber trotzdem ein Kunstwerk. Für Kenner und Freunde des besonderen Films.