Your generation is completely lost
Offensichtlich steht die Hauptfigur Johnny stellvertretend für Mike Mills. Wenn Johnny sich selbst immer wieder seine Gedanken ins Mikro spricht, ist das Mike Mills, der sich hier auf wenig subtile Weise mitteilt. Aber Mike Mills ist so „full of himself“, Johnnys Interviewpartner, Johnny selbst und oft genug Johnnys Schwester Viv reichen ihm noch immer nicht als Sprachrohre für das, was er uns mitzuteilen hat. Mills muss auch noch den neunjährigen Jesse wie einen Erwachsenen sprechen lassen, der ein halbes Buch über Psychologie gelesen hat und sich jetzt für einen Therapeuten hält.
Dieser Neunjährige fragt seinen Onkel unter anderem wörtlich, „Do you have trouble expressing your emotions?“. An anderer Stelle fragt er, „Why do you and my mom not act like brother and sister?“. Als Johnny mit Jesse darüber spricht, dass er mit ihm nach New York City gekommen ist, meint das Kind „I really had no choice”. Und über seine Mutter sagt er aus heiterem Himmel, „I heard, that she had an abortion.“. Wenn der Neunjährige mit den Beiträgen seines Onkels zum Gespräch nicht zufrieden ist, unterbricht er ihn auch schon mal mit „blablabla“.
Vielleicht meinen die Leser*innen an dieser Stelle, der neunjährige Jesse könne vielleicht deshalb wie ein sehr nerviges Mitglied einer Selbsthilfegruppe sprechen, weil er ja einen Therapiepatienten in der Familie hat. Sein Vater muss wegen einer bipolaren Störung stationär behandelt werden. Aber hier hat es sich Drehbuchautor Mike Mills leider viel zu leicht gemacht. Denn dieser ungemein aufmerksame, analytische und alles infrage stellende Neunjährige, weiß gar nicht, warum sein Vater weg ist. Das Kind hat keine Ahnung. Um noch eine englische Redewendung zu bemühen, Mills wants to have his cake and eat it too.
Mike Mills will uns mit seinem Film seine Ansichten zur Kindererziehung aber auch zum Leben, zum Universum und zum ganzen Rest vermitteln. Daran ist zunächst gar nichts verkehrt. Ein Filmemacher kann und soll zu seinem Publikum sprechen. Aber Mills geht kein bisschen subtil vor. Tatsächlich spricht er nicht einfach zu seinem Publikum. Er erklimmt bereits in den ersten Minuten seines Films eine Kanzel und fängt an zu predigen. Und dann hört er nicht mehr damit auf. Nicht einmal, wenn ein Neunjähriger spricht.
Sorry, but Mike Mills is really full of himself.
Dabei ist Mills Botschaft ebenso vage wie einfallslos. Kinder sind irgendwie die besseren Menschen. Ach, wären wir doch alle mehr wie Kinder. Kinder sind so ehrlich. Kinder sind so authentisch. Kinder durchschauen die Welt der Erwachsenen und so weiter und so abgedroschen. Und weil Kinder so perfekt sind, dürfen wir ihnen auch nie Grenzen aufzeigen und dürfen sie immer nur bestätigen. Alles muss sich immer um das Kind drehen.
In „C’mon C’mon“ sehen wir lange Szenen, während derer sich der Erwachsene zunächst darauf vorbereitet und sich dann wortreich bei dem Neunjährigen entschuldigt. Und wofür? Dafür, dass er ungehalten war, nachdem der kleine Klugscheißer plötzlich weggelaufen ist. Entschuldigt sich der Neunjährige? Natürlich nicht. Wozu auch? Ich kann mich nicht einmal erinnern, von ihm während des Films jemals ein Wort des Dankes gehört zu haben. Tja, das Kind ist eben wichtiger und klüger als jeder Erwachsene.
Und so verblassen die Leistungen der erwachsenen Darsteller. Joaquin Phoenix („Joker“) lässt in wenigen Szenen einen sensiblen Charakter aufblitzen, der sich in seinem Leben zu bequem eingerichtet hatte. Gaby Hoffmann („Now and then“) spielt eine Frau, die meint, es schwer zu haben. Aber der Film lässt uns keine der beiden Geschwister kennenlernen. Kurze Rückblenden und wenige Dialogzeilen lassen auf weitzurückreichende Konflikte in der Familie schließen. Doch Mike Mills verliert diesen Handlungsfaden bald komplett aus den Augen. Schnell ist die Figur des neujährigen Jesse Dreh- und Angelpunkt des ganzen Films.
Wie so viele Eltern, stellt auch Mike Mills das Kind in den Mittelpunkt. Alles bezieht sich nur auf das Kind. Die erwachsenen Protagonisten existieren nur für und in Beziehung zu diesem Kind. Davon abgesehen haben sie kein Leben. Und wie bei so vielen Eltern, lässt diese unreflektierte Konzentration auf das Kind und nur das Kind eben dieses Kind schnell unsympathisch werden.
Vielleicht ist der junge Woody Norman ein ganz reizender Junge und wird einmal ein toller Schauspieler. Am Ende von „C’mon C’mon“ möchte man nur noch, dass seine Mutter ihn endlich abholt.