Den zweiten Wermutstropfen mögen viele Filmfans vielleicht gar nicht herausschmecken. Mir stößt er trotzdem bitter auf. Ich bin ein großer Fan von „colorblind casting“, von mir aus auch gerne in historischen Filmen. Allerdings kann es, je nach Konstellation, zu eher ungeschickten Assoziationen führen, die sicher nicht im Sinne der Filmemacher waren. Vor einiger Zeit wirkte es in „David Copperfield: Einmal Reichtum und zurück“ doch sehr verwirrend, als eine verwitwete, weiße Frau ein Kind indischer Abstammung bekam und der anwesende Arzt auch Inder war. Sicher wollten die Macher von „David Copperfield“ nicht implizieren, der Arzt könnte der Vater sein.
In „Cyrano“ nun spielt der Afroamerikaner Kelvin Harrison jr. die Rolle des Christian von Neuvillette. Er wird zwar in dieser Version, anders als im Original, nicht als „arger Dummkopf“ bezeichnet. Aber das ändert nichts daran, dass wir hier einen schwarzen, ungebildeten Mann sehen, der sich nicht auszudrücken weiß und in den sich eine weiße Frau nur wegen seines exotischen Aussehens auf den ersten Blick verliebt. Der beinahe illiterate schwarze Mann wird von einem weißen Intellektuellen nicht nur ge- und belehrt. Tatsächlich übernimmt der weiße Mann die Verantwortung über das Leben des schwarzen Mannes und macht ihn zu seiner Marionette.
Sein Gesicht ist wie deins, brennend vor Geist und Fantasie
Diese Implikationen können doch definitiv nicht in der Absicht der Filmemacher gelegen haben. Kelvin Harrison jr. („Assassination Nation“) spielt die undankbare Rolle des Christian mit einer liebenswerten Aufrichtigkeit. Er vermittelt uns, wie nicht bloß Cyrano, sondern auch Christian bald unter ihrem unglückseligen Arrangement leidet.
Nach Filmen wie „Rogue One“, „Ready Player One“ oder “Robin Hood” sehen wir Ben Mendelsohn wieder in einer Schurkenrolle. Als Graf De Guiche wirkt er abwechselnd affektiert und gnadenlos, herablassend und rachsüchtig und erinnert durchaus an den verstorbenen Alan Rickman in einigen seiner besten Rollen.
Haley Bennett stahl schon vor fünfzehn Jahren als durchgeknallter Britney-Aguilera-Klon in „Mitten ins Herz – Ein Song für Dich“ ihren Co-Stars die Show und ließ beachtliches Gesangstalent erkennen. Schon in Ilya Naishullers unterschätztem „Hardcore“ war uns klar, warum der Held alles was er tat nur für die von ihr verkörperte Figur getan hat. Und nun in „Cyrano“ verlieben wir uns zusammen mit Christian und Cyrano in ihre Roxanne. Sie sprüht vor Intelligenz, sieht zauberhaft aus und hat eine Ausstrahlung der sich kein Mann entziehen kann. Bennetts Leistung ist großartig, aber das muss sie auch sein, um neben dem Star des Films bestehen zu können.
Peter Dinklage ist „Cyrano“. An seiner Leistung werden sich zukünftige Darsteller dieser Figur messen lassen müssen. Aber damit nicht genug. Dinklage zeigt vermutlich die großartigste, berührendste dramatische Darstellung des Jahres. Was Anthony Hopkins letztes Jahr mit „The Father“ gelungen ist, bekommen wir 2022 von Peter Dinklage geboten: einen Meilenstein der Schauspielkunst.
Ich selbst kannte Dinklage bisher nur aus seinen vielen Nebenrollen, von „Tiptoes“ (einem der bescheuertsten Filme aller Zeiten), über „X-Men: Days of Future Past“ zu „Three Billboards“, in denen er immer solide Leistungen gezeigt hat. Die Fernsehserie rund um Drachen. Brüste und Kaffeetassen mit Peter Dinklage habe ich nie gesehen. Vielleicht hat es geholfen, dass Drehbuchautorin und Dinklages langjährige Ehefrau Erica Schmidt die Rolle des Cyrano für ihren Mann geschrieben hat. Aber da ist noch viel mehr.
Dinklages Gesicht zeigt nicht einfach Emotionen. Es vermittelt uns feinste Nuancen von Gefühlen ebenso deutlich wie dramatische Ausbrüche. Dinklage kann uns mit der ganzen Bandbreite seiner Mimik begeistern, mitreißen, überwältigen und in einigen Szenen verwüsten. Wenn seinem Cyrano das Herz bricht, bricht unser Herz mit. Wenn Cyrano verzweifelt oder hilflos ist, fühlen wir uns verloren. Wir lieben mit Cyrano, wir kämpfen an seiner Seite und am Ende des Films finden wir mit ihm und durch ihn unseren Frieden.
So ganz nebenbei hat Dinklage eine interessante Sing- und eine noch großartigere Sprechstimme. Wenn Cyrano sich ein Wortgefecht mit einem eitlen Schauspieler liefert, möchten wir den Schauspieler gar nicht gehen sehen, damit das Gespräch nicht endet. Wenn er Christian belehrt, horchen wir auf, weil wir auch etwas lernen möchten. Und wenn Cyrano mit schwächer werdender Stimme seinen letzten Brief vorträgt, möchten wir diesen feinen, großartigen Menschen festhalten und niemals gehen lassen.
„Cyrano“ ist Dinklages Meisterleistung. Selten hat ein Darsteller eine solche emotionale Wirkung auf der Leinwand entfaltet. Man kann den Studiobossen und Produzenten nur raten, nach „colorblind casting“ demnächst „sizeblind casting“ zu betreiben und Peter Dinklage in so vielen anspruchsvollen Hauptrollen wie möglich zu besetzen.
Fazit
Nicht einfach noch eine Musicalversion eines Literaturklassikers, sondern ein Fest für alle echten Filmfans. Es gilt Peter Dinklage als einen der großartigen Charakterdarsteller unserer Zeit zu entdecken!