Todd Haynes hat bereits in einem seiner ersten Spielfilme, dem verstörenden und leider fast vergessenen „Safe“, die damals noch recht unbekannte Julianne Moore in der Hauptrolle kongenial eingesetzt. Einige Jahre später arbeiteten die beiden wieder an dem berührenden Drama „Far from Heaven“ zusammen. Haynes‘ Bob-Dylan-Filmbiografie „I’m not there“ war dann stilistisch brillant, aber in jeder anderen Hinsicht ein wenig arg prätentiös. „Carol“ mit Cate Blanchett war wieder ein großartiger, berührender Film. „May December“ ist sicher Haynes‘ reifster Film.
Wie subtil sich in diesem Film alles tatsächlich entwickeln darf und wie wir hier echte Menschen kennenlernen dürfen, lässt sich gut an der Figur der Schauspielerin Elizabeth beschreiben. Zu Beginn des Films wirkt sie sympathisch, ist unsere Identifikationsfigur. Natürlich muss sie sich mit dieser Gracie gut stellen, um etwas über sie zu erfahren. Das ist ihr Job. Aber irgendwann merken wir, wie Elizabeth Verhaltensweisen und Äußerlichkeiten von Gracie übernommen hat. Wie lange tut sie das bereits? Wir können es nicht sagen. Ist das nicht merkwürdig? Und was hat es mit ihrem Verhalten im Lager der Tierhandlung auf sich?
Bald sind es gerade die Szenen, in denen sie mit anderen Figuren über Gracie oder ihre Arbeit spricht, die uns die wahre Elizabeth und ihre Absichten erkennen lassen. In einer Szene, in der die Schauspielerin zu einer Schulklasse spricht, lohnt es sich, gut aufzupassen. Sonst ist die Szene vorbei bevor wir das Verstörende und die Rücksichtslosigkeit an Elizabeths Verhalten realisieren.
Regie, Drehbuch und Darsteller arbeiten hier großartig zusammen. Eine letzte gemeinsame Szene mit Gracie und Elizabeth gegen Ende des Films ist dann leider etwas zu viel des Guten. Die vermeintliche Pointe im Sinne von „Du meinst, Du bist gut. Aber ich bin besser.“ wertet den Film an der Stelle kein Bisschen auf. Dieses überaus realistische Drama braucht keinen Show-Down. Tatsächlich wird dadurch vieles, was wir zuvor gesehen haben, leider abgewertet. Diese Szene ist der Wermutstropfen in einem sonst so vorzüglichen Film.
She always knows what she wants
Für einen solchen Film braucht es eine hervorragende Besetzung. Cory Michael Smith gibt nach „Call Jane“ wieder einen herrlich miesen Charakter. Die Nachwuchsdarsteller*innen Piper Curda, Elizabeth Yu und Gabriel Chung stellen die drei Kinder von Gracie und Joe dar und vermitteln uns unterschiedliche Arten des Umgangs mit dem Trauma ihrer Kindheit.
Charles Melton („Bad Boys for Life“) ist Schauspieler und Modell. Wenn dieser überaus attraktive Mann im Film mit einem deutlichen Bierbauch und hängenden Schultern durchs Bild stolpert, erkennen wir die Depression von Gracies Ehemann Joe.
Lange Zeit meinte ich, die besten darstellerischen Leistungen Natalie Portmans würden weit hinter liegen. Sie war mit gerade mal zwölf Jahren bereits großartig in „Léon – Der Profi“ und später zauberhaft in „Beautiful Girls“. Für die Leistung, Hayden Christensen in „Star Wars – Episode II“ bei seinem Gejammer über Sand nicht laut ausgelacht zu haben, hätte sie einen Oscar verdient. Aber bereits ihre tatsächlich Oscar-prämierte Darstellung in „Black Swan“ war leider fast ebenso übertrieben und plump wie der ganze Rest des Films. Zu den „Thor“-Filmen hatte sie nur wenig beizutragen. Und in „Auslöschung“ war es uns gleichgültig, ob ihre Figur überlebt oder wie.
In „May December“ zeigt sie eine der reifsten Darstellungen, die wir seit langem im Kino gesehen haben. Nicht nur weil sie die raffinierte Egozentrikerin so extrem subtil spielt. Portman weiß genau, an welchen Stellen des Films sie sich zurückzuhalten hat. Gerade weil Portman nicht von Anfang an „aufspielt“, haben spätere Szenen eine ganz besondere emotionale Wirkung auf uns.
Portman lässt auch eine bewundernswerte Reife erkennen, wenn sie ihrer Partnerin Julianne Moore in gemeinsamen Szenen immer wieder den größten Teil der Aufmerksamkeit des Publikums überlässt. Wie ihre Figur Elizabeth, wartet auch Portman zunächst ab, um zu beobachten und zu reagieren. Wenn sie dann anfängt, Julianne Moore bzw. Gracie zu spielen, ist das nie eine bloße Imitation. Tatsächlich scheint Portman ihre Filmpartnerin Moore ebenso zu channeln, wie Ihre Figur Elizabeth ihr Vorbild Gracie.
Auch Julianne Moore zeigt hier eine der besten Darstellungen ihrer an großartigen Leistungen, von „Boogie Nights“ bis zu „Gloria“, nicht armen Karriere. Moore kann unter schwächerer Regie (z.B. der ihres Ehemannes Bart Freundlich, siehe „After the Wedding“) durchaus zum Übertreiben neigen. Unter der Regie von Todd Haynes agiert sie als „wohltemperierte Schauspielerin“. Jede noch so kleine Nuance ihrer Darstellung trifft exakt den richtigen Ton. Ihre Gracie ist egozentrisch, sich ihrer Wirkung auf ihre Umgebung aber stets bewusst. Sie ist rücksichtslos und wirkt doch kaum jemals aggressiv. Diese Frau verdrängt und akzeptiert nur ihre eigenen Wahrheiten, aber ohne echten Realitätsverlust.
Andere Darstellerinnen hätten Gracie vielleicht als Wahnsinnige dargestellt. Und auch wenn das Verhalten der Figur an einzelnen Stellen etwas Wahnhaftes hat, lässt Moore ihre Gracie sich zwar in der Nähe der Grenze zum Wahnsinn bewegen. Diese Grenze behalten aber sowohl Moore in ihrer Darstellung als auch Gracie im Film stets aus einer gewissen Distanz im Blick, um ihr nicht zu nahe zu kommen und sie ganz sicher nicht zu überschreiten.
Diese wohltemperierte Darstellung Julianne Moores in Verbindung mit der reifen, zurückhaltenden und doch umso dramatischeren Leistung Natalie Portmans, zusammen mit der Arbeit eines Weltklasseregisseurs in Topform ergeben einen ganz besonderen Film. Vergleichbares bekommen wir vielleicht zwei oder dreimal pro Jahr im Kino zu sehen. Der Film lief bereits 2023 in den amerikanischen Kinos und hat dort wohl nur einen Bruchteil seiner sicher überschaubaren Kosten eingespielt. Es ist anzunehmen, dass „May December“ nur kurze Zeit in den deutschen Kinos laufen wird. Fans des besonderen Films sollten die Gelegenheit nutzen.
Filme mit Protagonisten, die uns nicht sympathisch sein können, so zu drehen, dass sie trotzdem interessant sind, ist ganz große Filmkunst. Todd Haynes ist dieses Kunststück zusammen mit seinen beiden Hauptdarstellerinnen grandios gelungen.