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Kritik: May December

sub kritik
 
Autor: Walter Hummer
 
Filme mit Protagonisten, die uns nicht sympathisch sein können, so zu drehen, dass sie trotzdem interessant sind, ist ganz große Filmkunst. Ist dieses Kunststück mit „May December“ gelungen?
 
We’re basically the same
 
Die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) reist nach Savannah Georgia um dort Gracie (Julianne Moore) zu treffen. Gracie hatte vor 23 Jahren, im Alter von sechsunddreißig Jahren, eine sexuelle Beziehung mit dem damals gerade dreizehnjährigen Joe. Sie musste dafür eine Haftstrafe absitzen und ist nun mit Joe verheiratet und die beiden haben drei gemeinsame Kinder. Elizabeth soll Gracie in einem Film über den Skandal spielen und will alles über sie und ihre Geschichte erfahren. Aber sie spricht auch mit anderen Betroffenen, wie Gracies Ex-Ehemann, ihren erwachsenen Sohn aus erster Ehe und anderen ...
 
Ganz zu Beginn des Films sehen wir Gracie in einer Szene, vor einer kleinen Gartenparty bei ihr Zuhause. Sie geht zum Kühlschrank und öffnet ihn. Die Kamera fängt diese Frau und ihr Gesicht ein. Starke Emotionen sind darauf zu erkennen. Die Musik klingt dramatisch. Und Gracie stellt bedeutungsvoll fest, „I don’t think, we have enough hot dogs.“.
 
Diese Szene hätte bei einem anderen Regisseur, mit einer anderen Darstellerin, in einem anderen Film leicht lächerlich wirken können. Tatsächlich hätte diese Szene lächerlich wirken müssen. Aufmerksame Filmfans müssten über Über-Inszenierung und Over-Acting schmunzeln. Aber wir tun es nicht. Wenn wir diese Szene sehen, können wir noch gar nicht wissen, welche Art von Mensch diese Gracie ist. Aber Regisseur Todd Haynes, die Autor*innen Samy Burch und Alex Mechanik und vor allem Julianne Moore vermitteln uns bereits in dieser frühen Szene, was uns erwartet
 
 
Diese Gracie ist ein durch und durch egozentrischer Mensch. Sie muss stets alles unter Kontrolle behalten (bald zählt sie die Biere, die ihr Ehemann trinkt), will aber als sanft und unbedarft wahrgenommen werden. In einer großartigen, zutiefst verstörenden Szene, wagt der Ehemann nach dreiundzwanzig Jahren etwas ganz Offensichtliches anzusprechen und hat der Entschlossenheit seiner Frau, sich weiterhin als Opfer zu sehen, rein gar nichts entgegenzusetzen. Fakten, Vernunft und die Realität ganz allgemein, haben keine Chance gegen die Wahrnehmung einer echten Egozentrikerin.
 
Diese Gracie ist eine brillante Manipulatorin, nicht weil sie gerne manipuliert, sondern weil die Manipulation für die Art, wie sie ihr Leben lebt, Grundbedingung ist. Ihr gegenüber steht in diesem Film die Schauspielerin Elizabeth. Vermutlich hat der Hollywoodstar kaum je von Arthur Schnitzler gehört. Trotzdem lebt sie nach Schnitzlers Weisheit, „Wir spielen immer. Wer es weiß, ist klug.“. Bereits beim ersten Zusammentreffen der beiden Frauen, kann man die subtile Manipulation der Darstellerin wahrnehmen. Im Lauf der Handlung könnte man sich fragen, welche der beiden Frauen die schrecklichere Person ist, würde aber wohl zu keinem befriedigenden Schluss kommen können.
 
Wenn ich hier die beiden wirklich furchtbaren Hauptpersonen des Films beschreibe, sollte ich vielleicht der Vollständigkeit halber erwähnen, dass auch kaum eine der Nebenfiguren halbwegs sympathisch ist. Der dreiundzwanzig Jahre jüngere Ehemann ist ein erbärmliches Weichei. Die fast erwachsenen gemeinsamen Kinder des Paares sind unaufrichtig und/oder agieren passiv-aggressiv, statt sich tatsächlich gegen die Mutter zur Wehr zu setzen. Gracies früherer Ehemann hat in dreiundzwanzig Jahren nicht gelernt, die Geschichte seiner ersten Ehe zu reflektieren. Und der Sohn aus erster Ehe ist ein astreiner Drecksack.
 
Also warum sollten wir uns einen Film über so furchtbare Menschen ansehen? Weil dieser Film brillant gemacht ist. Weil er hochinteressant ist. Und weil wir so etwas nicht jede Woche im Kino zu sehen bekommen. Einen Film über Protagonisten, die unsere Sympathien nicht verdienen, so zu drehen, dass er uns trotzdem anspricht und uns an ihrem Schicksal teilhaben lässt, ist tatsächlich ganz große Filmkunst. Und es braucht ganz besondere Filmemacher und ganz besondere Darsteller, wenn dieses Kunststück gelingen soll
 
02 ©2024 Wild Bunch Germany03 ©2024 Wild Bunch Germany07 ©2024 Wild Bunch Germany09 ©2024 Wild Bunch Germany
 
Todd Haynes hat bereits in einem seiner ersten Spielfilme, dem verstörenden und leider fast vergessenen „Safe“, die damals noch recht unbekannte Julianne Moore in der Hauptrolle kongenial eingesetzt. Einige Jahre später arbeiteten die beiden wieder an dem berührenden Drama „Far from Heaven“ zusammen. Haynes‘ Bob-Dylan-Filmbiografie „I’m not there“ war dann stilistisch brillant, aber in jeder anderen Hinsicht ein wenig arg prätentiös. „Carol“ mit Cate Blanchett war wieder ein großartiger, berührender Film. „May December“ ist sicher Haynes‘ reifster Film.
 
Wie subtil sich in diesem Film alles tatsächlich entwickeln darf und wie wir hier echte Menschen kennenlernen dürfen, lässt sich gut an der Figur der Schauspielerin Elizabeth beschreiben. Zu Beginn des Films wirkt sie sympathisch, ist unsere Identifikationsfigur. Natürlich muss sie sich mit dieser Gracie gut stellen, um etwas über sie zu erfahren. Das ist ihr Job. Aber irgendwann merken wir, wie Elizabeth Verhaltensweisen und Äußerlichkeiten von Gracie übernommen hat. Wie lange tut sie das bereits? Wir können es nicht sagen. Ist das nicht merkwürdig? Und was hat es mit ihrem Verhalten im Lager der Tierhandlung auf sich?
 
Bald sind es gerade die Szenen, in denen sie mit anderen Figuren über Gracie oder ihre Arbeit spricht, die uns die wahre Elizabeth und ihre Absichten erkennen lassen. In einer Szene, in der die Schauspielerin zu einer Schulklasse spricht, lohnt es sich, gut aufzupassen. Sonst ist die Szene vorbei bevor wir das Verstörende und die Rücksichtslosigkeit an Elizabeths Verhalten realisieren.
 
Regie, Drehbuch und Darsteller arbeiten hier großartig zusammen. Eine letzte gemeinsame Szene mit Gracie und Elizabeth gegen Ende des Films ist dann leider etwas zu viel des Guten. Die vermeintliche Pointe im Sinne von „Du meinst, Du bist gut. Aber ich bin besser.“ wertet den Film an der Stelle kein Bisschen auf. Dieses überaus realistische Drama braucht keinen Show-Down. Tatsächlich wird dadurch vieles, was wir zuvor gesehen haben, leider abgewertet. Diese Szene ist der Wermutstropfen in einem sonst so vorzüglichen Film.
 
She always knows what she wants
 
Für einen solchen Film braucht es eine hervorragende Besetzung. Cory Michael Smith gibt nach „Call Jane“ wieder einen herrlich miesen Charakter. Die Nachwuchsdarsteller*innen Piper Curda, Elizabeth Yu und Gabriel Chung stellen die drei Kinder von Gracie und Joe dar und vermitteln uns unterschiedliche Arten des Umgangs mit dem Trauma ihrer Kindheit.
 
Charles Melton („Bad Boys for Life“) ist Schauspieler und Modell. Wenn dieser überaus attraktive Mann im Film mit einem deutlichen Bierbauch und hängenden Schultern durchs Bild stolpert, erkennen wir die Depression von Gracies Ehemann Joe.
 
Lange Zeit meinte ich, die besten darstellerischen Leistungen Natalie Portmans würden weit hinter liegen. Sie war mit gerade mal zwölf Jahren bereits großartig in „Léon – Der Profi“ und später zauberhaft in „Beautiful Girls“. Für die Leistung, Hayden Christensen in „Star Wars – Episode II“ bei seinem Gejammer über Sand nicht laut ausgelacht zu haben, hätte sie einen Oscar verdient. Aber bereits ihre tatsächlich Oscar-prämierte Darstellung in „Black Swan“ war leider fast ebenso übertrieben und plump wie der ganze Rest des Films. Zu den „Thor“-Filmen hatte sie nur wenig beizutragen. Und in „Auslöschung“ war es uns gleichgültig, ob ihre Figur überlebt oder wie.
 
In „May December“ zeigt sie eine der reifsten Darstellungen, die wir seit langem im Kino gesehen haben. Nicht nur weil sie die raffinierte Egozentrikerin so extrem subtil spielt. Portman weiß genau, an welchen Stellen des Films sie sich zurückzuhalten hat. Gerade weil Portman nicht von Anfang an „aufspielt“, haben spätere Szenen eine ganz besondere emotionale Wirkung auf uns.
 
Portman lässt auch eine bewundernswerte Reife erkennen, wenn sie ihrer Partnerin Julianne Moore in gemeinsamen Szenen immer wieder den größten Teil der Aufmerksamkeit des Publikums überlässt. Wie ihre Figur Elizabeth, wartet auch Portman zunächst ab, um zu beobachten und zu reagieren. Wenn sie dann anfängt, Julianne Moore bzw. Gracie zu spielen, ist das nie eine bloße Imitation. Tatsächlich scheint Portman ihre Filmpartnerin Moore ebenso zu channeln, wie Ihre Figur Elizabeth ihr Vorbild Gracie.
 
Auch Julianne Moore zeigt hier eine der besten Darstellungen ihrer an großartigen Leistungen, von „Boogie Nights“ bis zu „Gloria“, nicht armen Karriere. Moore kann unter schwächerer Regie (z.B. der ihres Ehemannes Bart Freundlich, siehe „After the Wedding“) durchaus zum Übertreiben neigen. Unter der Regie von Todd Haynes agiert sie als „wohltemperierte Schauspielerin“. Jede noch so kleine Nuance ihrer Darstellung trifft exakt den richtigen Ton. Ihre Gracie ist egozentrisch, sich ihrer Wirkung auf ihre Umgebung aber stets bewusst. Sie ist rücksichtslos und wirkt doch kaum jemals aggressiv. Diese Frau verdrängt und akzeptiert nur ihre eigenen Wahrheiten, aber ohne echten Realitätsverlust.
 
Andere Darstellerinnen hätten Gracie vielleicht als Wahnsinnige dargestellt. Und auch wenn das Verhalten der Figur an einzelnen Stellen etwas Wahnhaftes hat, lässt Moore ihre Gracie sich zwar in der Nähe der Grenze zum Wahnsinn bewegen. Diese Grenze behalten aber sowohl Moore in ihrer Darstellung als auch Gracie im Film stets aus einer gewissen Distanz im Blick, um ihr nicht zu nahe zu kommen und sie ganz sicher nicht zu überschreiten.
 
Diese wohltemperierte Darstellung Julianne Moores in Verbindung mit der reifen, zurückhaltenden und doch umso dramatischeren Leistung Natalie Portmans, zusammen mit der Arbeit eines Weltklasseregisseurs in Topform ergeben einen ganz besonderen Film. Vergleichbares bekommen wir vielleicht zwei oder dreimal pro Jahr im Kino zu sehen. Der Film lief bereits 2023 in den amerikanischen Kinos und hat dort wohl nur einen Bruchteil seiner sicher überschaubaren Kosten eingespielt. Es ist anzunehmen, dass „May December“ nur kurze Zeit in den deutschen Kinos laufen wird. Fans des besonderen Films sollten die Gelegenheit nutzen.
 
Fazit
 
Filme mit Protagonisten, die uns nicht sympathisch sein können, so zu drehen, dass sie trotzdem interessant sind, ist ganz große Filmkunst. Todd Haynes ist dieses Kunststück zusammen mit seinen beiden Hauptdarstellerinnen grandios gelungen.
 
 
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