Wenn ein Geschöpf im Lauf der Geschichte nicht die eigene Schrecklichkeit sondern die der Menschen erkennt, wird „Poor Things“ zu einer der gelungeneren Film-Variationen von Mary Shelleys Frankenstein. Und auch wenn der Vergleich mit „Candide“ von Voltaire sehr weit hergeholt ist, so liefert „Poor Things“ eine bizarre Korrektur all der naiven, optimistischen Heldenreisen die wir seit mehr als einem Jahrhundert immer und immer wieder im Kino erzählt bekommen.
Die Dialoge klingen grandios. Selbst wenn die Hauptfigur ihre Muttersprache noch nicht vollständig beherrscht, kommuniziert sie immer klar und verständlich. Ihr zu lauschen, wie sie immer beredter wird, ist eine Freude. Selbst die absurdesten Gespräche klingen immer stimmig, weil in der Welt von „Poor Things“ eben wirklich alles möglich ist, auch Gespräche darüber, auf welche Körper eine Figur einstechen darf und auf welche nicht oder wie man mit Kindheitserinnerungen und Witzen im Bordell für Stimmung sorgt.
Und so wie in McNamaras Drehbuch einfach alles möglich ist, so machen Regisseur Lanthimos und sein Stab hinter der Kamera einfach alles möglich. Bauten, CGI, Make-up und Kostüme vermitteln bizarr futuristische Fantasy-Versionen von London, Lissabon, Alexandria und Paris, voller Schwebebahnen, Bordellen, Luxuskreuzfahrtschiffen, Slums, Irrenanstalten, und Herrenhäusern.
Großartig ins Bild gesetzt wird diese Pracht von Kameramann Robbie Ryan, der nach „The Favourite“ bereits zum zweiten Mal mit Lanthimos zusammenarbeitet und es diesmal geschafft hat, den Regisseur zu überreden, die unnötigen Fischaugen-Aufnahmen auf ein erträgliches Minimum zu reduzieren. Montiert wurden die Bilder wieder ganz meisterhaft von Yorgos Mavropsaridis, der mittlerweile für den Schnitt fast aller Filme seines Landsmanns Yorgos Lanthimos verantwortlich ist.
We are a fucked species
Vor der Kamera sorgt ein großartiges Ensemble dafür, dass in der Welt von „Poor Things“ alles möglich ist. Willem Dafoes ganz besonderes Gesicht hat ihm zu Beginn seiner Karriere vor allem Schurkenrollen beschert, bevor ihn Oliver Stone als eine Art Messias in Vietnam besetzte. Einige Jahre später war er dann unter der Regie von Martin Scorsese tatsächlich der Messias. Seither hat Dafoe unter anderem mehrere Psychopathen, verschiedene Vampire, Vincent van Gogh und mehrmals den gleichen Spider-Man-Bösewicht mit Persönlichkeitsstörung dargestellt.
Und obwohl Dafoe auch in fast jedem Film von Wes Anderson mitgespielt hat, ist die Figur des Arztes Godwin Baxter so ziemlich die schrägste Rolle, in der wir diesen Darsteller je gesehen haben. Wieder will ich keine Details vorwegnehmen. Aber alles an diesem Godwin Baxter, von seinem Spitznamen über sein Äußeres, seine Kindheit und Krankengeschichte bis zu seinem Weltbild, ist so skurril, man kann sich praktisch keinen anderen Darsteller in dieser Rolle vorstellen.
Mark Ruffalo kennen die meisten von uns als Hulk/Bruce Banner in verschiedenen Beiträgen zum MCU. Dabei hat er sich in so unterschiedlichen Filmen wie „Vergiss mein nicht!“ oder „Spotlight“ auch als kompetenter Charakterdarsteller bewiesen. Ruffalo hat aber in jungen Jahren auch eine Clownsschule besucht. Sein geckenhafter Verführer in „Poor Things“ wirkt, als hätte Ruffalo seine Erfahrungen bei der Darstellung einer Comicfigur, als Charakterdarsteller und als Clown in einen Mixer gepackt, absichtlich den Deckel weggelassen und alles auf höchster Stufe verrührt.
Was in der Welt von „Poor Things“ alles möglich ist, sieht man auch, wenn der Auftritt von Rainer Werner Fassbinders Muße Hanna Schygulla in der illustren Schar kompetenter Nebendarsteller*innen beinahe untergeht.
Niemand hätte wohl erwartet, was Emma Stone in „Poor Things“ alles möglich macht. Der Star aus „La La Land“ und „Cruella“ hat nach „The Favourite“ letztes Jahr auch in Lanthimos‘ Kurzfilm „Bleat“ mitgewirkt. Die beiden scheinen eine ganz besondere Arbeitsbeziehung entwickelt zu haben. Denn unter Lanthimos Regie sehen wir Stone Essen ausspucken und herumwerfen, torkeln, urinieren, auf Leichen einstechen, masturbieren, toben, kopulieren, erbrechen, kopulieren, trinken, kopulieren, hysterisch toben, kopulieren, sich prostituieren, kopulieren, sich radikalisieren, und immer und immer wieder kopulieren bevor sie am Ende einen der grausamsten Racheakte der Filmgeschichte ausführt.
Bei alldem wirkt Stones Darstellung immer stimmig. Wir können die Entwicklung ihrer Figur vom geistigen Kleinkind, über eine Lolita zur Sozialistin und weiter zur Wissenschaftlerin, vom Opfer zur Täterin, vom Geschöpf zur Schöpferin stets nachvollziehen. Während ihre Figur einen weiten Weg zurücklegt, geht die Darstellerin in mancher Hinsicht noch weiter.
Und während die gute Emma Stone in ihrer Darstellung weiter geht als irgendeine andere Schauspielerin ihres Kalibers in den letzten Jahren und während vor und hinter der Kamera ganz allgemein alles gemacht wird, damit in diesem Film alles, aber auch wirklich alles möglich ist, frage ich mich, ist das wirklich alles nötig?
Is that smell you? (SPOILER)
Ist die Geschichte von „Poor Things“ wirklich so anspruchsvoll? Oder bekommen wir hier mit besonders viel Aufwand die Frage beantwortet, wie es ausgehen hätte, wenn Charles Bukowski viktorianische Satiren geschrieben hätte? „Pygmalion meets Fuckmachine“? „The importance of being factotum“?
Ich habe bis vor zwei Absätzen des Langen und Breiten die vielen hervorragenden Aspekte des Films beschrieben. Aber „Poor Things“ lässt bei näherer Betrachtung durchaus auch einzelne Schwächen sowohl des Inhalts als auch der Umsetzung erkennen, die von der Kritik bisher weitgehend ignoriert wurden.
Eine der offensichtlichsten und oft durchgekauten Lehren von Mary Shelleys „Frankenstein“ (und fast aller Bearbeitungen dieses Stoffes) ist die, dass der Doktor, der das Geschöpf erschaffen hat, das wahre Monster ist. So weit so wenig neu. Wenn hier der Doktor, der das Geschöpf erschaffen hat, von Anfang an wie Frankensteins Monster aussieht, ist das nicht besonders subtil. Wenn das unbedarfte weibliche Wesen den eigenen Weg zu (sexuellem) Bewusstsein und Erkenntnis damit beginnt, sich ausgerechnet einen Apfel einzuführen, braucht man mit dem ersten Buch der Bibel gar nicht besonders vertraut zu sein, um zu verstehen, was gemeint ist.
Wenn der geile, unsichere Mann die Frau beim ersten Anzeichen selbstständigen Verhaltens in eine Kiste sperrt, ist das sicher eine feministische Botschaft. Bloß keine besonders neue und keine besonders subtile Botschaft. Spätestens wenn die Frau den Mann mit ihrer sexuellen Selbstbestimmung buchstäblich in den Wahnsinn treibt, möchte man den Film zusätzlich zu allen anderen Auszeichnungen auch noch für den „Darren-Arronofsky-Ehrenpreis-für-Subtilität“ nominieren.
Themen wie diese auf diese Art zu behandelt zu sehen, wird manche Betrachter*innen vielleicht eine Distanz zur Geschichte entwickeln lassen, statt sie einzubeziehen. Viele Teile des Films sind so plump geraten, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, der Filmemacher würde einem in solchen Momenten ständig zuzwinkern. Nudge nudge, knowwhatimean? Es sind Stellen wie diese, die einen auch darüber nachdenken lassen, ob der Film nicht eher für Kritiker und Festivaljurys gemacht ist, als für das Publikum.
Das Feuilleton liebt diesen Film jetzt schon. Unter anderem wegen des Wagemuts von Emma Stone. Aber ich fühlte mich irgendwann an „Jackass Forever“ erinnert, der meinen ohnehin geringen Bedarf am Anblick männlicher Geschlechtsteile auf Jahrzehnte hinaus gedeckt hat. Zwar bietet das behaarte Dreieck von Frau Stone sicher einen deutlich erfreulicheren Anblick als irgendeiner der Penisse irgendeines der an „Jackass Forever“ beteiligten Herren. Trotzdem gilt: Genug ist genug. Und mehr ist zu viel.
Bei der überdeutlichen, detaillierten Darstellung oder Zurschaustellung nackter Körper im Film sollte man sich immer fragen, ob der Film ohne diese Szenen auch interessant wäre. Würden wir „Der letzte Tango in Paris“ heute noch sehen wollen, wenn die arme mittlerweile verstorbene Maria Schneider nicht so furchtbar inszeniert worden wäre? Was wäre „Basic Instinct“ MIT Unterwäsche gewesen?
“Poor Things“ wäre doch auch ohne den immer wiederkehrenden Anblick von Emma Stones Schambereich interessant. Und feministische Botschaften gewinnen durch den Anblick femininer Geschlechtsmerkmale nicht an Nachdruck. Also wozu der Überfluss an Nacktheit? Die inflationäre Zuschaustellung der nackten Hauptdarstellerin hat mich das exakt getrimmte, scharf umrissene Dreieck irgendwann für anachronistisch und nicht zur Figur und ihren buschigen Augenbrauen passend empfinden lassen. Und welche Frau hatte denn im späten 19.Jahrhundert stets glattrasierte Achseln? Irgendwie kann mir nicht vorstellen, dass Yorgos Lanthimos wollte, dass wir uns nach seinem Film mit Fragen wie diesen beschäftigen