Der neue Film von Simon Verhoeven erzählt die wahre Geschichte von Milli Vanilli. Aber wie spannend kann diese bekannte Geschichte noch sein?
Blame it on the rain
Ende der Achtziger Jahre präsentierte der erfolgreiche Produzent Frank Farian ein neues Projekt: das Duo Milli Vanilli. Bereits die erste Platte des Franzosen Fab Morvan und des Deutschen Rob Pilatus wurde weit über die Grenzen Deutschlands erfolgreich. Nachdem die beiden mit ihrem Disco-Sound innerhalb kurzer Zeit auch in den USA Erfolg hatten, wurden sie sogar mit dem Grammy als „Best New Artists“ ausgezeichnet. Aber bald konnte niemand mehr das größte Problem des Duos vor den Fans verheimlichen ...
Es gibt kein Filmgenre, das ich gar nicht mag. Klar, die Handlungen der meisten romantischen Komödien sind lächerlich banal. Aber das Gleiche kann man auch über die Handlungen der meisten Horror-Filme sagen. Und ganz sicher über die Handlungen der meisten Action-Filme. In den meisten Horror-Filmen sieht man nicht die besten aller möglichen darstellerischen Leistungen. Aber auch das gilt für viele andere Filmgenres in ähnlichem Umfang. Und es gibt auch immer Ausnahmen. Immer wieder zeigen echte Künstler, wie man in jedem Filmgenre etwas Besonderes schaffen kann.
Aber gegenüber einer bestimmten Art von Film, habe ich im Laufe der Jahrzehnte eine gesunde Skepsis entwickelt. Es sind dies Filme „based on a true story“. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, dass Filmemacher und Studios die Ansicht entwickelt haben, es wäre erstrebenswert im Film eine Geschichte „based on a true story“ zu erzählen. Ich weiß auch nicht, warum das einen Film aufwerten soll. Und mir ist komplett unklar, warum sich diese Ansichten seit Jahrzehnten halten.
Kurzes Experiment: Jeder nennt schnell fünf hervorragende Filme „based on a true story“. Moment! Damit es nicht zu leicht wird: Jeder nennt schnell fünf hervorragende Filme „based on a true story“, die NICHT von Martin Scorsese inszeniert wurden. Ha!
Und? Was haben wir? “Schindlers Liste”, damit war zu rechnen. Noch vier. Na? Kommt noch etwas? Schwierig, oder? Ich kann gerne noch mit Sidney Lumets “Dog Day Afternoon” helfen. Aber um die fünf vollzubekommen, müssten wir hier eine ganze Weile zusammensitzen und überlegen.
Don Siegels „Flucht von Alcatraz“ ist wirklich spannend. Aber bloß weil die Handlung ausschließlich aus Spekulation und Erfindung besteht. Und „Jenseits von Afrika“ ist nach über dreißig Jahren noch immer wunderschön anzusehen. Aber Sydney Pollack hat nicht einfach nur drei der großartigsten Schauspieler*innen, einen der besten Kameramänner und einen der besten Filmkomponisten der Filmgeschichte auf den Höhepunkten ihres Schaffens versammelt. Er hat auch die Fakten der zugrundeliegenden „wahren Geschichte“ weitgehend ignoriert.
Die richtige Methode, einen Film „based on a true story“ interessant zu gestalten, könnte also ein lässiger Umgang mit Fakten sein. Dann hat sich Simon Verhoeven leider das falsche Projekt ausgesucht. Denn die Fakten dieser Geschichte sind leider seit gut dreißig Jahren weltbekannt. Und Verhoeven hält sich als Drehbuchautor und Regisseur nicht nur weitgehend an die bekannten Fakten. Er will auch so viele Aspekte der Geschichte als möglich in seinem Film unterbringen. Und dieses edle Bemühen ist die Ursache für die entscheidenden Defizite seines Films.
Ja, die Handlung ist „based on a true story“. Aber das alleine macht sie eben noch nicht interessant. Das Leben schreibt eben NICHT die besten Geschichten. Die Realität ist leider kaum jemals originell. Sonst bräuchten wir weder Kino noch Literatur. Was echte Menschen im wahren Leben so tun und warum sie es tun ist eben menschlich und damit leider meistens vorhersehbar und kaum jemals spannend. Eben weil Verhoeven sich so nah an die tatsächliche Geschichte hält, enthält der Film keine echten, dramatischen Konflikte.
Selbstverständlich sagen die beiden jungen Hauptfiguren zu allem „ja“ und „amen“, was ihnen der reiche, erfolgreiche Produzent vorgibt. Die beiden sind arm und wollen berühmt sein und sind mit dem Bus zum ersten Geschäftstermin gekommen. Und selbstverständlich erliegen sie den Versuchungen von Sex, Drugs und Hybris. Auch alle anderen Figuren agieren und reagieren in jeder Minute des Films so wie man es erwarten würde. So weit, so wenig spannend. Dass wir alle wissen, wie die Geschichte ausgeht, macht den Film zusammen mit Verhoevens nicht eben raffinierter Erzählweise zu einem der vorhersehbarsten Filme seit „Auf dem Highway ist die Hölle los“.
Whatever you do, don’t put the blame on you
Aber Verhoeven hält sich nicht nur sehr eng an die Geschichte der beiden Hauptfiguren. Er will auch noch so vielen Nebenfiguren als möglich gerecht werden. Ich habe Simon Verhoeven vor einigen Jahren für seinen Film „Nightlife“ interviewt. Daher kann ich bestätigen, er ist einer der nettesten Filmemacher*innen, die ich je kennengelernt habe. Aber sein Ansatz, auch noch die Geschichte jeder einzelnen Nebenfigur so fair als möglich zu erzählen, ist viel zu „nett“ und hilft seinem ohnehin nicht besonders spannenden Film leider kein bisschen.
Denn Frank Farian tut und sagt in diesem Film, was er als Urheber dieser Geschichte eben zu tun und zu sagen hat. Farians Assistentin ist einmal eifersüchtig und hätte einmal Grund zur Eifersucht geliefert. Aber weil beide Szenen nirgendwohin führen, können sich auch hier keine interessanten Konflikte entwickeln. „The Real Milli Vanilli“ tun und sagen, was man von ihnen erwarten würde. Die Plattenbosse in den USA tun und sagen, was sie eben in den jeweiligen Situationen zu tun und zu sagen haben. Und selbst die bundesrepublikanische Hausfrau liefert keine Überraschung.
Und so bekommen zwar all diese Nebenfiguren ihre eigenen zwei, drei oder vier Szenen zugestanden. Aber aus all diesen vielen kleinen Szenen entwickelt sich niemals irgendetwas Interessantes. Rob wird einmal in Deutschland mit Rassismus konfrontiert und das Duo hat einmal in den USA damit zu tun. Aber auch diese kurzen Begegnungen bleiben folgenlos. Und so gerät der zwei Stunden lange Film bald zu lang. Und zu lang wird bald zu langweilig.
Das ist wirklich schade. Der Look des Films ist sehr authentisch geraten. Natürlich sahen die Klamotten der späten Achtziger und frühen Neunziger noch grässlicher aus als im Film. Aber Kostüme und Ausstattung haben einen guten Job gemacht und Verhoeven hat einen passenden visuellen Stil gefunden. Die Unterschiede zwischen den beiden Seiten des Atlantiks wurden gut herausgearbeitet. Und niemand merkt, dass nur wenige der in den USA spielenden Szenen tatsächlich dort gedreht wurden.
Die Leistungen der Darsteller*innen sind solide. Der junge Elen Ben Ali spielt Fabrice Morvan mit einer angenehmen Ernsthaftigkeit, die uns für ihn einnimmt. Tijan Njie sieht mit Kontaktlinsen nicht nur besser aus als das Original. Er wirkt auch in anstrengenden Szenen stets sympathisch. Ich verzichte an dieser Stelle auf einen Scherz darüber, dass die beiden Darsteller im Film NICHT selbst singen.
Ich habe vorhin die mangelnde Originalität der Realität und die Vorhersehbarkeit der Handlungen echter Menschen beklagt. Matthias Schweighöfer als Frank Farian, Bella Dayne als seine Mitarbeiterin Milli und die anderen Nebendarsteller*innen daher für die mangelnde Originalität in der Gestaltung ihrer Rollen und ihre vorhersehbaren Leistungen zu kritisieren, wäre ebenso wenig originell und ebenso vorhersehbar. Also verzichte ich einfach auch darauf.
Fazit
Gefällige darstellerische Leistungen und ein authentischer Look reichen leider nicht, der Vorhersehbarkeit der längst bekannten Geschichte zu entkommen. Und so gerät der Film bald zu lang und irgendwann leider langweilig.