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Kritik: The Lesson

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Autor: Walter Hummer
 
Nur selten laufen intelligente Thriller für ein intelligentes Publikum in den Kinos. Sollte uns eine Erstlingsregisseurin bei der Verfilmung eines Erstlingsdrehbuchs eine dieser Ausnahmeerscheinungen beschert haben?
 
There are no new ideas
 
Liam ist Absolvent einer britischen Eliteuniversität und angehender Autor. Er wird engagiert, dem Sohn des berühmten und erfolgreichen Schriftstellers J.M. Sinclair Nachhilfe zu geben, damit der Nachwuchs auf jeden Fall die Aufnahmeprüfung an der gleichen Universität besteht. Der Vater seines Nachhilfeschülers ist Liams literarisches Vorbild, hat aber seit dem Selbstmord seines älteren Sohns vor fünf Jahren nichts mehr veröffentlicht. Natürlich ist Liam begeistert, einige Wochen auf dem Landsitz seines Idols verbringen zu können. Aber wie heißt es so schön? „Never meet your heroes“ ...
 
Sehr früh im Film darf der von Richard E. Grant kongenial dargestellte Autor J.M. Sinclair dozieren, es gäbe in der Belletristik keine neuen Ideen. Alles sei geborgt oder gestohlen. Und natürlich hat er damit weitgehend Recht. Der Autor muss im Laufe des Films feststellen was wir als Publikum schon lange wissen: es braucht Talent, um auf der Grundlage bekannter Ideen etwas Besonderes schaffen zu können.
 
Alex MacKeith hat mit seinem ersten Drehbuch für einen Spielfilm nichts wirklich Neues erschaffen. Bekannte Muster und durchaus auch verschiedene Vorbilder sind immer wieder deutlich erkennbar. Aber alleine der Mut, den er und Regisseurin Alice Troughton in ihrem Spielfilm-Debüt immer wieder erkennen lassen, wirkt „neu“ und macht aus „The Lesson“ einen ganz besonderen Film.
 
 
Es ist mutig, wie die Macher des Films auf die Aufmerksamkeit und Intelligenz des Publikums vertrauen. Von Babelsberg bis Hollywood, von Cinecità bis Pinewood lassen Filmemacher diese Art von Mut und Vertrauen seit Jahrzehnten weitgehend vermissen. Alles, aber auch wirklich alles, jede Kleinigkeit der Handlung wird uns in Filmen immer und immer wieder erklärt. Nicht so in „The Lesson“. So wird etwa über die Überheblichkeit des privilegierten Autors und seiner Frau im Film gar nicht groß gesprochen. Nein, diese Überheblichkeit wird uns einfach gezeigt.
 
In einer frühen Szene bewundert der Held eine Plastik im Musikzimmer der Gastgeberin. Die Frau meint, sie hätte sie der Künstlerin abgekauft, als diese den Turner-Prize nicht gewonnen hatte und schließt mit der Feststellung, sie hätte sie damit „entdeckt“. Troughton und MacKeith vertrauen darauf, dass dem Publikum klar ist, alle Künstler*innen, die für diesen renommiertesten britischen Kunstpreis auch nur nominiert werden, sind bereits längst „entdeckt“ worden.
 
Auch der erste Auftritt des Erfolgsautors verrät uns alles über diesen Charakter und sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen. Der Patriarchen erscheint zu spät zum Abendessen, lässt Liam zunächst stehen, um zuerst seine Frau und seinen Sohn zu begrüßen, schaltet die Musikanlage an und bezieht den jungen Gast erst ins Gespräch ein, wenn er ihm eine herablassende Frage zum Komponisten der Musik stellt. Im weiteren Verlauf seines Aufenthalts in der Villa wird der junge Mann wie willkürlich mal zum gemeinsamen Abendessen gebeten und dann wieder nicht.
 
Aber nicht nur die Charaktere und ihre Eigenschaften lässt man uns mit filmischen Mitteln erfahren, statt sie uns wie minderbegabten Nachhilfeschülern zu erklären. Auch wichtige Details der Handlung bedürfen unserer Aufmerksamkeit. Wenn wir wissen wollen, wie sich eine Person an einer entscheidenden Stelle Zugang zu einem bisher stets verschlossenen Raum verschaffen konnte, müssen wir eine halbe Stunde vorher ebenso aufmerksam gewesen sein wie eben diese Person, als ihr nicht entgangen ist, welches Buch eine andere Figur nach dem Verlassen dieses Raumes wohin gestellt hat.
 
01 ©2023 Anna Patarakina Port au Prince Pictures02 ©2023 Anna Patarakina Port au Prince Pictures03 ©2023 Anna Patarakina Port au Prince Pictures04 ©2023 Anna Patarakina Port au Prince Pictures
 
Es ist auch mutig, uns nicht immer wieder zu erläutern, wie wichtig das neue Buch des Autors für dessen Karriere ist. Die Filmemacher gehen freundlicherweise davon aus, dass Filmfans, die sich einen Thriller ansehen, dessen Handlung im literarischen Milieu spielt, ungefähr wissen, wie Buchstaben immer wieder ihren Weg zwischen zwei Buchdeckel finden.
 
Und gerade weil uns nicht immer wieder alles erläutert wird, kann auf der Leinwand Geschehen stattfinden. Entwicklungen können sich ereignen. Figuren können agieren und reagieren. Und das Schönste an all dem ist: Teile dieses Geschehens können uns sogar überraschen. Ist das nicht herrlich?
 
Good writers borrow, great writers steal
 
Das Drehbuch und die Inszenierung sind nicht frei von Schwächen. Ein auf seine Privatsphäre bedachter Autor hätte niemals ein Arbeitszimmer, das vom Schreibtisch des Gästehauses eingesehen werden könnte. Und bei Interviews mit berühmten Persönlichkeiten werden Tabuthemen vorher abgesprochen. Die erste Szene, die fast die gesamte Handlung zur Rückblende werden lässt, bereichert den Film kein bisschen. Und das Schwimmen einer Figur in einem See wird zu groß aufgebaut um dann nur wenig Wirkung zu hinterlassen. Aber diese Kleinigkeiten werden von einer Vielzahl von guten Ideen aufgewogen.
 
All diese Ideen hat Alice Troughton mit einem wohl recht überschaubaren Budget umgesetzt. Dabei macht sie das Beste daraus und kann die finanziellen Beschränkungen recht gut verbergen. Ich habe eine Weile gebraucht, bis mir aufgefallen ist, dass dieses „britische“ Landhaus im Film wohl gar nicht wirklich jenseits des Ärmelkanals stehen kann („The Lesson“ wurde aus Mitteln des Deutschen Filmförderfonds und der MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein finanziert). Dem Film und seiner Wirkung tut das keinerlei Abbruch.
 
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Ein großer Vorteil des vergleichsweise geringen Budgets ist die Möglichkeit, echte Schauspieler*innen statt Filmstars in den Hauptrollen besetzen zu können. Richard E. Grant ist einer der unterschätztesten Darsteller des Vereinigten Königreichs. Grant war bereits vor mehr als fünfunddreißig Jahren fantastisch in „Withnail & I“. Seither ist er einer dieser großartigen Darsteller, die sogar misslungene Filme mit ihrer bloßen Mitwirkung aufwerten können. Bespiele dafür reichen von „L.A. Story“ über „Hudson Hawk“ und „Spiceworld – Der Film“ zu „Die Eiserne Lady“. „Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers“ konnte leider nicht einmal von Richard E. Grant gerettet werden.
 
In „The Lesson“ spielt Grant ganz hervorragend den überheblichen, erfolgsverwöhnten Autor, der die eigene Großartigkeit als gegeben hinnimmt, sich dann aber doch schnell bedroht fühlt und dessen zunächst noch unterdrückte Verzweiflung recht bald offensichtlich wird. Wo andere Schauspieler den Schriftsteller als Schurken oder Karikatur dargestellt hätten, bleibt Grants Darstellung immer zutiefst menschlich und nachvollziehbar.
 
Julie Delpy kennen wir vor allem als Celine aus Richard Linklaters „Before ...“-Trilogie. Hier spielt sie, wie zuletzt in „My Zoe“, eine starke Frau mit der tiefen Überzeugung, genau zu wissen, was zu tun ist. Weil Drehbuch und Regie sie diesmal unterstützen und nicht behindern, kann Delpy hier eine überaus reife und starke Darstellung von Hybris zeigen, die den Rahmen des Films bildet.
 
Liam, der angehende Autor, wird von dem noch recht unbekannten irischen Schauspieler Daryl McCormack verkörpert. Er und sicher auch die Regisseurin haben bei der Gestaltung seiner Darstellung ganz richtig entschieden und lassen ihn nicht gegen die Exzentrik von Richard E. Grants Figur oder die Kraft von Julie Delpys Figur ankämpfen. Sowohl McCormacks Figur als auch die Darstellung wirken überaus flexibel in ihren Reaktionen. Wie ein Surfer den Wellen folgt oder ein Boxer mit dem Punch des Gegners mit rollt, so elegant und dynamisch sehen wir den jungen Mann auf seine Gegenspieler reagieren.
 
Fazit
 
Ein intelligenter Thriller von intelligenten Filmemachern für ein intelligentes Publikum gemacht. Eine solch seltene Ausnahmeerscheinung sollte echten Filmfans den Preis einer Kinokarte wert sein.
 
 
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