Und eben weil wir diese beiden Männer so schnell kennengelernt haben, können wir Davids Zurückhaltung nachvollziehen und warum das Verhalten seines Cousins ihn immer wieder überfordert. Und deshalb wissen wir, dieser Benji meint niemals böse, was er sagt oder tut. Er ist dieser eine Freund oder dieser eine Verwandte, dieser eine liebe Mensch in unserem Leben, der so ganz anders ist als wir und den wir nie ganz begreifen werden, ohne den unser Leben aber sehr viel leerer und weniger interessant wäre. Natürlich nervt uns dieser Mensch. Und wir wollen sicher nicht jeden Tag unseres Lebens Zeit mit ihm verbringen müssen. Aber trotzdem brauchen wir ihn ebenso, wie er uns braucht.
David braucht Benji in seinem Leben, weil Benji es mit Lebendigkeit füllt. Und weil Benji zwar viel lebendiger lebt als David, seinem Leben aber einiges andere fehlt, braucht Benji seinen Cousin vielleicht noch nötiger als umgekehrt. „A Real Pain“ feiert das Leben und die Nähe, zeigt aber auch, wie leicht Menschen einander verletzen können. Wo der Schmerz in „Treasure“ aus zweiter Hand stammt, bietet uns „A Real Pain“ exakt was der Titel verheißt.
Eine zauberhafte Szene bildet eine Art stillen Höhepunkt des Films: die beiden Männer sind an der letzten Station ihrer Reise angekommen, dem Haus in dem die verstorbene Großmutter gelebt hatte. In einer Variation des alten jüdischen Brauchs, Steine statt Blumen auf Grabsteine zu legen, legen die beiden Männer je einen Stein vor der Tür des Hauses ab. Ein polnischer Nachbar trägt Ihnen auf, diese Steine wieder zu entfernen. In dem Haus lebt nun eine alte Frau und diese könnte über die Steine stolpern. Und es stimmt doch: Schmerz der Vergangenheit sollte nicht die Gegenwart blockieren, weil wir sonst nicht in die Zukunft schauen können.
Am Ende des Filmes sind die Probleme der beiden Protagonisten nicht gelöst. Eisenberg erspart sich und uns das längst langweilige Muster der „Heldenreise“. Die beiden Hauptfiguren haben bloß etwas Zeit miteinander verbracht, sind einander wieder näher gekommen und sind dabei auch noch anderen Menschen begegnet. Begegnungen von Menschen und Zeit miteinander verbringen sind zwei wiederkehrende Themen des Films. Wenn wir nach erfrischend kurzen und kurzweiligen 90 Minuten Benji und David begegnet sind und Zeit mit ihnen verbracht haben, erinnert uns das vielleicht an einen besonderen Menschen in unserem eigenen Leben, der uns ebenso nerven kann wie Benji David, mit dem wir aber doch wieder einmal Zeit verbringen möchten.
Eisenberg erzählt diese Geschichte mit viel Humor, in schönen und doch immer realistischen Bildern des noch recht unbekannten polnischen Kameramanns Michal Dymek. Wenn Benji die Mitreisenden zur Interaktion mit dem Denkmal des Warschauer Aufstands animiert oder wenn er auf einen jüdischen Friedhof hitzig diskutiert, wirkt das weder innerhalb der Handlung noch auf das Publikum jemals respektlos. Die im Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek gedrehten Szenen berühren uns tief, ohne uns emotional zu manipulieren. Wir sehen einfach fühlende und denkende Menschen und wie sie auf das reagieren, was sie erleben. In diesem Sinne ist „A Real Pain“ einer der intelligentesten und gleichzeitig emotionalsten Filme des Jahres.
Thank you, … I guess
Der Film ist bis in die Nebenrollen erstklassig besetzt. Mit praktisch jeder einzelnen Nebenfigur hätten wir gern mehr Zeit verbracht. Der noch unbekannte Darsteller Kurt Egyiawan spielt einen jungen Mann, über dessen Lebensweg wir gerne mehr erfahren hätten. Der Brite Will Sharpe ist selbst Regisseur („Die wundersame Welt des Louis Wain“). Seine Rolle hätte leicht zur beliebigen komischen Nebenfigur verkommen können, aber in diesem Film hätten wir sogar mit dem britischen Fremdenführer noch mehr Zeit verbracht. Jennifer Grey (die Damen kennen sie aus „Dirty Dancing“, wir Kerle aus „Die Rote Flut“) lässt in ihren wenigen Szenen viel Erfahrung und eine Spur von feiner Traurigkeit erkennen.
Jesse Eisenberg hat bereits vor vielen Jahren in Filmen wie „Adventureland“ und „Zombieland“ gezeigt, wie sympathisch er spielen kann, bevor er uns in „The Social Network“ Narzissmus und Egozentrik vermittelt hat. Unter der falschen Regie, namentlich der von Zack Snyder, ist uns Eisenberg aber auch schon furchtbar auf die Nerven gefallen. Unter seiner eigenen Regie spielt er ebenso zugänglich wie berührend und ist ein perfekter Gegenpart zu Kieran Culkins Darstellung.
Wie begabt der jüngere Bruder von Macaulay Culkin ist, wissen aufmerksame Filmfans seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Seine Darstellung in „The Mighty“ zählt zu den besten Leistungen von Kinderschauspielern der Filmgeschichte. In den letzten Jahren hat er vor allem in weniger bekannten Filmen oder Fernsehserien mitgewirkt. Eine schwierige Figur wie Benji ist eine Herausforderung für jeden Schauspieler. Zu leicht könnte man in die Falle tappen, „aufzudrehen“, dem Publikum eine tour-de-force zu liefern und es anzustrengen. Kieran Culkin findet immer den richtigen Ton, behält stets das Gleichgewicht. Seine sensible Darstellung bildet das emotionale Zentrum von „A Real Pain“.
Fazit
Jesse Eisenbergs intelligenter, berührender und rundum gelungener Film erinnert uns nicht nur an das, was wir an Filmen lieben. Aufmerksame Filmfans mag er vielleicht sogar daran erinnern, was sie an anderen Menschen lieben.