DKDL 160x600 Wide Skyscraper Dis Kinoservice JETZT TS

 
nflix news

Kritik: Red Rooms - Zeugin des Bösen

sub kritik
 
Autor: Christopher Diekhaus
 
Ebenso cleverer wie unbequemer Psychothriller um eine junge Frau, die von einem aufsehenerregenden Mordprozess magisch angezogen wird.
 
Keine Gewaltbilder
 
Seine Blütezeit hatte der Serienkillerfilm auf der großen Leinwand vor allem in den 1990er-Jahren nach dem Triumph von Jonathan Demmes Romanadaption „Das Schweigen der Lämmer“. Im Kino ist das Subgenre heute zwar immer noch vertreten, allerdings deutlich weniger als im Streaming- und TV-Bereich, wo es – man muss es so sagen – vor True-Crime-Formaten über Mehrfachmörder nur so wimmelt. Die Faszination am Bösen ist ungebrochen.
 
Anders lässt sich die Schwemme nicht erklären. Das Publikum giert nach spektakulären Kriminalgeschichten, möchte in bizarre Hintergründe eintauchen und, soweit möglich, die Psyche der Täter seziert bekommen. All diese Punkte spielen eine Rolle in Pascal Plantes Spielfilm „Red Rooms - Zeugin des Bösen“. Und doch legt der Frankokanadier einen erfrischend ungewöhnlichen Thriller vor, der bis zum Ende gleichermaßen irritiert und gefangen nimmt.
 
Dreh- und Angelpunkt ist eine junge Frau namens Kelly-Anne (Juliette Gariépy), die großes Interesse daran hat, dem Prozessauftakt gegen den mutmaßlichen Mädchenkiller Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos) vor Ort im Gericht von Montréal beizuwohnen
 
 
Um einen Platz im Zuschauerraum zu ergattern, schläft sie in der Nähe des Justizgebäudes auf der Straße. Interessanterweise – die erste von mehreren unkonventionellen Entscheidungen des Regisseurs und Drehbuchautors - wendet sich die Kamera nach dem Einstieg für eine Weile von der Protagonistin ab. Hat sie im Gerichtssaal Platz genommen, liegt der Fokus mehr als eine Viertelstunde lang auf den ausführlichen Eröffnungsworten der Staatsanwältin (Natalie Tannous) und des Verteidigers (Pierre Chagnon).
 
Schon hier deutet sich eine Strategie des Films an: Ungeheuerliche Dinge kommen zur Sprache, unser Kopfkino wird aktiviert, zu sehen kriegen wir von den auf Video festgehaltenen Grausamkeiten, die dem Angeklagten vorgeworfen werden, jedoch nichts.
 
„Red Rooms - Zeugin des Bösen“ ist keiner dieser Reißer, die sich an Gewaltbildern berauschen. Im Gegenteil, obwohl Chevalier drei Jugendliche gefoltert, sie zerlegt und sein Vorgehen für ein sensationsgieriges Publikum im Dark Web gefilmt haben soll, fließt während der gesamten Laufzeit kein Tropfen Blut. Einzig das vermummte Gesicht des Mörders blickt uns an einer Stelle in einer Videoaufnahme entgegen. Pascal Plante spielt mit der Lust, mehr erfahren zu wollen, und der Angst, den Anblick nicht zu ertragen. Um es noch einmal klar zu machen: Wer auf „Saw“-Exzesse hofft, wird frustriert sein, weil der konkrete Schrecken der Taten unserer Fantasie vorbehalten bleibt.
 
Eine kontinuierlich wachsende Spannung baut „Red Rooms - Zeugin des Bösen“ dennoch auf, was gleich mehrere Gründe hat. Mit Kelly-Anne setzt uns der Regisseur eine stets krass beherrscht wirkende, isoliert lebende, nicht übermäßig redefreudige Hauptfigur vor, deren Obsession mit dem aufsehenerregenden Prozess man nicht richtig zu fassen bekommt. Ist sie wie die labile Clementine (Laurie Babin) vernarrt in Chevalier, den der Film, abgesehen von einer einzigen Szene, zu einem in einem Glaskasten sitzenden, nicht gerade charismatischen Statisten degradiert?
 
01 2024 24 Bilder02 2024 24 Bilder03 2024 24 Bilder04 2024 24 Bilder
 
Oder gibt es eine andere Motivation dafür, wie ein Groupie an jedem Prozesstag ins Gericht zu pilgern? Was uns der Film verrät: Kelly-Anne arbeitet als Model, kann sich dank ausgeprägter Fähigkeiten im Onlinepokern eine Wohnung in einem schicken Hochhaus leisten und ist mit überdurchschnittlichen IT-Kenntnissen gesegnet. Eine eigenhändig modifizierte KI, die sie im Alltag nutzt, sei bestens geschützt, ihr Domizil undurchdringbar, betont sie selbstbewusst.
 
Herrlich enigmatische Charakterstudie
 
Dass mit der jungen Frau irgendetwas nicht stimmt, spürt man schnell. Umso mehr möchte man hinter die Fassade schauen, sie verstehen. Doch genau das erschwert der Thriller immer wieder. Kelly-Anne umweht eine merkwürdig anziehende, aber auch abstoßende Aura, die in großen Teilen auf das Konto der schauspielerisch noch nicht allzu erfahrenen Juliette Gariépy geht. Selbst vermeintlich nichtssagende Gesten – etwa, wenn ihre Figur Avocadostücke aus einem Salat herauspuhlt und zur Seite schiebt – lädt sie so geschickt auf, dass sie uns gebannt über Kelly-Anne rätseln lassen. Selten hat man im Thriller-Kino in den letzten Jahren ein derart komplexes, widerspenstiges Charakterporträt gesehen, das bis zum Schluss der Versuchung widersteht, in billige psychologische Erklärungsmuster zu verfallen.
 
In einer gerechten Welt müssten Gariépy nach dieser Darbietung reihenweise starke Rollenangebote ins Haus flattern. Nervenkitzel bezieht der Film auch aus dem Zusammenprall Kelly-Annes mit der so gegensätzlichen Clementine. Letztere redet oft wie ein Wasserfall, posaunt ihre Meinung über den Chevalier-Fall laut hinaus und verströmt eine Grundnervosität, die von der zumeist kontrolliert geführten Kamera gelegentlich gespiegelt wird. Obwohl die beiden Frauen bis auf ihr Interesse am Prozess nichts gemein haben, entwickelt sich eine Art Freundschaft, nimmt Kelly-Anne die Zugereiste bei sich auf.
 
Spätestens in der zweiten Hälfte, wenn das Unbehagen unaufhaltsam ansteigt, kristallisiert sich heraus, dass „Red Rooms - Zeugin des Bösen“ auch eine höchst raffinierte Inszenierung der Blicke betreibt. Wer schaut wen oder was auf welche Weise an? Wir als Zuschauer sehen zum Beispiel Kelly-Anne und Clementine dabei zu, wie sie eines der Mordvideos sichten, wobei das Model wiederum die Reaktion ihrer neuen Freundin beobachtet. Gespenstisch ist vor allem ein kurzer Augenkontakt im Gerichtssaal in dem Moment, in dem sich die aufgestaute Spannung erstmals furios entlädt.
 
Überhaupt nutzt Pascal Plante die Mittel des Kinos gekonnt, um eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen. Das im eher unüblichen 3:2-Format gehaltene Bild zwängt die Figuren regelrecht ein, konzentriert sich ganz auf sie, lässt ein klaustrophobisches Gefühl entstehen. Und die von Dominique Plante, dem Bruder des Regisseurs, komponierte Musik reflektiert den zunehmenden Kontrollverlust der Protagonistin, wird gerade im letzten Drittel immer treibender und dringlicher. Auch wenn auf der Zielgeraden gar nicht so spektakuläre Dinge passieren, entfaltet „Red Rooms - Zeugin des Bösen“ eine ganz eigene Wucht.
 
Fazit
 
Moralisch komplex, erzählerisch unberechenbar, stark gefilmt und grandios gespielt – der kanadische Independent-Thriller lässt viele artverwandte Hollywood-Werke ganz schön alt aussehen.
 
 
Unterstütze FantasticMovies.DE: