Ein ungewöhnlicher kleiner Film liefert eine ungewöhnliche Antwort auf die Frage, was man wohl mit dem Reichtum aus einem Lottogewinn anfangen könnte …
Welcome to Wallis Island!
Herb McGwyer war vor einigen Jahren eine Hälfte eines erfolgreichen Folkmusic-Duos. Weil er mittlerweile das Geld braucht, ist er unterwegs zu einem kleinen, aber sehr gut bezahlten live-Auftritt auf einer kaum bewohnten Insel vor der britischen Küste. Erste Verunsicherung stellt sich ein, als er tatsächlich vom Boot ins Meer springen muss, um an Land zu gelangen.
Ein Steg oder gar ein Hafen lohnt sich für die wenigen Einwohner von Wallis Island wohl nicht. Weitere Überraschungen folgen. Denn Charles, der komische Kauz, der den verwunderten Herb am Strand empfängt, ist nicht nur Veranstalter, Finanzier und Gastgeber in einer Person. Er allein stellt auch das gesamte zu erwartende Publikum des geplanten Konzerts. Und dann erscheint auch noch die zweite Hälfte des ehemaligen Erfolgsduos, um gemeinsam mit Herb aufzutreten …
Immer weniger Leute gehen ins Kino. Und wenn dann nur noch, um etwas ganz Besonderes zu sehen: Blockbuster von Marvel, Disney und Co. Oder unmögliche Missionen mit Tom Cruise. Oder opulente Musicalverfilmungen. Oder es muss das ganz große Drama geboten werden vielstündige Filme, in denen es um historische Kriminalfälle, den Holocaust und moderne Architektur oder um nichts geringeres als den Bau der ersten Atombombe geht. Mal ehrlich, wann waren wir denn das letzte Mal im Kino um uns einfach einen unterhaltsamen Film über ganz normale Menschen mit ganz normalen Problemen anzusehen?
Nun genau dazu hätten wir demnächst Gelegenheit. Die Protagonisten von „The Ballad of Wallis Island“ sind weder Superhelden noch Superschurken. Und auch wenn der Film jede Menge Musik enthält, sehen wir hier keine Heerscharen von Tänzer*innen in bunten Kostümen und noch bunteren Kulissen. Dieser Film bietet nicht das große Drama, sondern echte Emotionen und jede Menge Herz. Und das alles mit einer ordentlichen Portion Humor.
Verfasst wurde das Drehbuch von den beiden Hauptdarstellern Tom Basden und Tim Key. Beide waren Mitglieder der britischen Comedy-Truppe „Cowards“. Ihr Drehbuch ist aber gar nicht feige, sondern recht mutig. Die Autoren haben nämlich den naheliegenden Fehler vermieden, sich über ihre Hauptfigur Charles lustig zu machen. Der ist zwar ein komischer Kauz, mit einem unerschöpflichen Vorrat an wirklich furchtbar schlechten Wortspielen und hat leider nie gelernt, wann er bitte mal die Klappe halten sollte. Aber als Publikum lachen wir nicht über ihn, sondern wir lächeln mit ihm. Charles ist das emotionale Zentrum dieses Films und so können wir gar nicht anders, als seinen bewundernswert positiven Blick auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest zu übernehmen. Und sei es nur für 99 kurze und kurzweilige Minuten.
Auch Regisseur James Griffiths macht alles richtig, wenn er uns in dieser Komödie keine Gags und Pointen präsentiert, sondern einfach witzige Situationen zeigt und uns eine angenehm heitere Grundstimmung vermittelt. Wenn diese Stimmung dann im Verlauf der Handlung umschlägt, vermittelt dieser Film wie nebenbei tiefe Einsichten über Verlust und Veränderung. Der isländische Kameramann G. Magni Ágústsson fängt sowohl das Spiel der Darsteller*innen als auch die Schönheit der Insel in angenehm unspektakulären Bildern ein. Die verschiedenen Folk-Songs im Film sind sowohl harmonische Untermalung dieser Bilder als auch vollwertige Handlungselemente.
That’s all there is
Den einzigen echten Kritikpunkt stellt die Konzentration des Drehbuchs auf die Figur des Sängers dar. Es ist nicht so, dass dieser Herb McGwyer keine interessante Figur wäre. Wie sein Erfolg nach der Trennung von seiner Band-Kollegin nachgelassen und was er dagegen zu unternehmen versucht hat, ist durchaus relevant. Und Co-Autor Tom Basden spielt diesen Egozentriker immer nachvollziehbar. Wenn dieser Herb der Vergangenheit nachhängt, sich nur mit sich selbst beschäftigt, seine Unzufriedenheit auf andere überträgt und Vertrautheit mit Liebe verwechselt, ist er eine passende Identifikationsfigur für jeden von uns.
Das Problem ist nicht, dass Herb nicht interessant wäre. Das Problem ist viel mehr, dass jede andere Figur des Films viel interessanter ist als dieser Herb. Ab der Hälfte des Films verliert der Film einfach ein bisschen zu viel Zeit mit Herb McGwyer, während wir doch viel mehr Zeit mit Charles verbringen möchten. Dieser Charles ist alles, was Herb nicht ist. Wie der zweite Co-Autor Tim Key diesen Charles mit einer durchweg positiven Einstellung und ohne einen einzigen negativen Gedanken durch die überschaubare kleine Welt der Insel tapsen lässt, macht uns diesen Charakter so sympathisch, wir gönnen ihm nicht bloß einen sondern gerne gleich mehrere Lottogewinne.
Natürlich wirkt Charles‘ Verhalten oft furchtbar indiskret. Aber schnell merken wir, es ist seine überbordende Empathie, die ihn einfach echtes Interesse an seinen Mitmenschen zeigen lässt. Dieser Charles ist viel interessanter und auch vielschichtiger als Herb, wenn er offensichtlich einsam ist, aber nicht unter dieser Einsamkeit leidet und sogar einen traumatischen Verlust auf eine durch und durch positive Art und Weise verarbeiten möchte.
Und nicht nur Charles, auch die wenigen anderen Figuren dieses Films sind alle interessanter als Herb McGwyer. Warum haben die Autoren der Bandkollegin Nell Mortimer nicht noch zwei oder drei weitere Szenen gewidmet. Carey Mulligan („Promising Young Woman“) spielt diese Frau mit einer sanften inneren Kraft und einer Lebenserfahrung, die der Figur ihres ehemaligen Partners völlig fehlt. Wir hätten gerne noch mehr über sie und ihr Leben erfahren.
Über die von Sian Clifford („See How They Run”, “Fleabag”) mit zauberhaft argloser Kompetenz dargestellte Besitzerin des einzigen Ladens der Insel möchten wir bitte demnächst einen eigenen Spielfilm sehen. „The Ballad of Wallis Island“ enthält einige wirklich witzige, schräge Running-Gags. Zu den besten davon gehören die Szenen in denen die Gäste auf der Insel feststellen müssen, was es in diesem Laden alles selbstverständlich nicht gibt und was die Besitzerin und einzige Angestellte des Ladens alles ebenso selbstverständlich gar nicht kennt.
Fazit
Ein ungewöhnlicher kleiner Film gehört zum Unterhaltsamsten, was man zurzeit im Kino sehen kann. Wenn es mal kein Blockbuster oder großes Drama sein muss, einfach ein Ticket kaufen und einen sympathischen Kauz auf seiner Insel besuchen.